von Edith Krispien

Von der Raupe, die Menschenverstand bekam

Einmal kroch eine häßliche grüne Raupe über einen Weg. Dabei erlebte sie es, daß ein Mensch seinen Fuß beiseite setzte, um sie nicht zu zertreten. Seitdem verehrte sie Menschen.

Als sie einmal an einem besonders fetten grünen Blatt ein paar eingesponnene Fliegeneier sah, überkam sie ein menschliches Rühren, sie bezwang ihre Gefräßigkeit und begnügte sich mit einem Blatt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie das Blatt mit den Fliegeneiern gefressen hätte. Diese für eine Raupe so ungewöhnliche Regung trug ihr die Begegnung mit einem leuchtenden, unirdischen Wesen ein, das sie fragte, ob sie irgendeinen Wunsch hätte.

Die Raupe überlegte nicht lange, sondern sagte schnell: "Ich wünsche mir Menschenverstand!" Das himmlische Wesen, so schien es der Raupe, sah für einen Augenblick betroffen aus. Dann nickte es mit einem merkwürdigen Lächeln und verschwand.

In der Raupe ging nach diesem Ereignis eine seltsame Veränderung vor. Sie hatte vorher nie nachzudenken brauchen, was sie tun sollte - jetzt begann sie ihren Tageslauf zu planen und genau einzuteilen. Dazu erwachte in ihr ein ungeheurer Wissensdurst, und so widmete sie sich der Naturforschung. Bald wußte sie über das Walten der Natur eine Menge. Sie wußte, daß Vögel Eier legen, aus denen wieder gleichartige Vögel heraus krochen; daß Hasen wieder Hasen zur Welt brachten, daß eine Rose eine Rose und Distel eine Distel blieb.

Eines Tages traf die Raupe eine andere Raupe, die sie fragte, warum sie sich denn noch nicht eingesponnen habe.

"Warum sollte ich mich denn einspinnen?", sagte die grüne Raupe kopfschüttelnd, "ich bin ja noch auf der Höhe meines Lebens! Ich esse mit bestem Appetit, ich krieche gern herum und ich treibe interessante Studien!"

"Ja, aber...", sagte die andere Raupe erstaunt, "wenn du dich nicht einspinnst, wirst du doch kein Schmetterling! Und wer ein Schmetterling ist, kann fliegen wie ein Vogel, er bekommt herrliche bunte Flügel, er nährt sich von Blütenstaub und Honig und gehört zu den schönsten Geschöpfen auf Erden."

Die grüne Raupe merkte nun, daß sie mit ihrem Menschenverstand der einfältigen anderen Raupe so weit überlegen war, daß es fast aussichtslos erschien, sich von dieser hohen Warte aus noch verständlich zu machen. Dennoch wollte sie es versuchen. "Meine Liebe", sagte sie gönnerhaft, "ich will versuchen, dir die Wahrheit näher zu bringen, wenn sie auch schmerzlich ist. Aber für die Wahrheit ist kein Preis zu hoch. Die Sache mit der Schmetterlingsverwandlung ist eine fromme Lüge, die irgendeiner unserer Großväter einmal erfunden hat. Aus einer Raupe kann nur eine Raupe werden, und Schmetterlinge werden aus Schmetterlingen. Du erkennst es schon daran, daß beide von grundverschiedener Nahrung leben und von so völlig anderer Wesensart sind, daß eine Verbindung gar nicht bestehen kann! Die Verwandlungsgeschichte ist blinder Aberglaube. Ist vielleicht schon einmal ein Schmetterling aus dem Reich der Schmetterlinge als Raupe zurückgekommen und hat gesagt: "Seht her, ich war ein Schmetterling!?"

"Nein", sagte die andere Raupe verzagt, "das ja nicht. Der Schmetterling wäre ja auch schön dumm, wenn er wieder als Raupe zurückkommen würde. Ich jedenfalls glaube daran, daß die Geschichte wahr ist. Ich fühle in mir eine große Sehnsucht, ein Schmetterling zu werden. Und ich werde mich auch einspinnen, so wie es alle Raupen tun!"

Die grüne Raupe geriet über soviel blinden Wahn direkt in menschliche Verzweiflung. "Elendig gehen sie alle zu Grunde", rief sie aus. "Und nicht genug damit! Sie betrügen sich auch noch um ihr Leben als Raupe! Wie herrlich schmecken die grünen Blätter! Wie wunderbar ist es, auf Gräsern herumzukriechen! Warum sollte man mehr wollen? Wenn man doch als Raupe geschaffen ist!? Da soll man sich plötzlich bei lebendigem Leibe einspinnen und den Freuden dieser Welt entsagen, um eines Märchenglaubens willen?"

"Ich weiß nicht, was mit dir ist!", sagte die andere Raupe bekümmert. "Niemals habe ich eine Raupe getroffen, die solche Zweifel an unserer Verwandlung hatte wie du. Wir alle glauben daran, daß uns innen Flügel wachsen werden, und daß wir dann einmal, nach dem langen Winterschlaf, in der neuen Frühlingssonne als Schmetterlinge ausschlüpfen werden. Man kann das gar nicht Glauben nennen. Wir wissen es doch! Nicht ich bin blind, sondern du!"

Die grüne Raupe gab es auf, ihre Gefährtin wissenschaftlich zu belehren. Sie war schließlich tolerant. "Spinn dich nur ein, wenn es dich glücklich macht", sagte sie, "warum sollte ich dir deinen Kinderglauben nehmen?" Und sie trennten sich und krochen ihrer Wege.

Die grüne Raupe genoß ihr Raupenleben weiter in vollen Zügen und sah ihrem Ende mit philosophischer Ruhe entgegen. Die Herbststürme kamen, die Blätter fielen von den Bäumen, es wurde kalt. Immer müder und älter wurde die Raupe. Längst war sie allein, denn alle anderen hatten sich eingesponnen und warteten auf die Verwirklichung ihrer großen Sehnsucht, für die sie doch keine Beweise hatten.

Einmal, als die grüne Raupe besonders fröstelte, hätte sie sich am liebsten auch in ein Spinnwebenkleid gehüllt. Aber dazu hatte sie keine Kraft mehr, außerdem ging das gegen ihre höheren Erkenntnisse, und sie wollte sich nicht noch zum Ende ihres Lebens untreu werden.

Langsam kroch sie über einen Weg. Diesmal kam ein barmherziger Menschenfuß, der sie zertrat.

*****

zurück zu den Kurzgeschichten