von Edith Krispien

Die beiden Wassertröpfchen, die an die Oberfläche wollten

Mitten im großen Ozean hatten zwei Wassertröpfchen ein buntes, wellenbewegtes Dasein. Sie kannten die geheimnisvolle, leuchtende Tiefe, die Urwälder auf dem Meeresgrund, sie kannten alle Zaubergebilde von Muscheln, Seesternen und Wasserblumen, alle Fische und Fischlein, die schrecklichen Seeungeheuer und die reizenden kleinen Seepferdchen. Eine Welt von unendlichem Reichtum und von einer unermeßlichen Pracht war vor ihnen ausgebreitet und sie hüpften und segelten von einem Wunder zum anderen.

Das Bewußtsein, ein Wassertröpfchen zu sein, bringt es aber doch mit sich, daß man mehr sehen und weiter reisen möchte, als andere Wassertröpfchen, und unsere beiden Wassertröpfchen, die einmal auf einem rosa Seestern den Bund fürs Leben geschlossen hatten, waren besonders ehrgeizig. Manche Pflanze hatten sie gemeinsam durchdrungen, von manchem Fisch waren sie verschluckt worden und manche tollkühne Fahrt durch wild kreisende Meeresstrudel hatten sie hinter sich, als sie eines Tages an das Wrack eines untergegangenen Schiffes kamen. Neugierig spülten sie drum herum, besahen sich das Ganze von innen und außen und wollten schon weiterschwimmen, als ein anderes Wassertröpfchen mit ziemlich herablassendem Ton sagte: "Ein solches Schiff habe ich oben auf dem Meer schwimmen sehen! Dort wo die Luft anfängt, wo man den Himmel sehen kann und den großen Feuerball... dort oben ist das wirkliche Leben!"

Schlimmer als Gift sind solche Worte, die glückliche Wesen neidisch und unzufrieden machen können. Unsere Wassertröpfchen träumten nun von nichts anderem mehr, als von der Oberfläche des Meeres, auf der man das wahre Leben erfahren kann. Und da sie sich auf dem tiefsten Grunde des Ozeans befanden, mußten sie sich mindestens noch tausend Jahre gedulden, bis sie mit einer Welle so hochsteigen konnten, daß sich der Himmel offen vor ihnen ausbreitete. In der Zwischenzeit malten sie sich gründlich aus, wie es sein würde, wenn sie oben angekommen wären. Sie stellten es sich ganz verschieden vor und manchmal stritten sie sich darüber, weil jedes glaubte, seine Vorstellung sei die Richtige.

Nach langer Zeit der Wanderschaft waren sie einmal schon ganz dicht vor der Oberfläche gewesen, sie hatten bereits einen seltsamen bläulichen Schimmer von oben gesehen, aber dann hatte eine starke Welle sie wieder mit in die Tiefe gerissen. Nun wurden sie ganz unglücklich und brauchten lange Zeit, bis sie ihre Hoffnung wiederfanden.

Endlich kam der große Tag. Sie fieberten so vor Erregung, daß sie nicht mehr miteinander sprechen konnten. Heller wurde es, immer heller, und das Dröhnen und Rauschen der brechenden Wellen schwoll immer stärker an. Jetzt - dachte jedes für sich, jetzt beginnt unser eigentliches Leben! Und bevor sie es ganz fassen konnten, tanzten sie mit ihrer Welle auf einer riesigen, graublauen Fläche, die ringsum überall gleich aussah. Ein blaßblauer Himmel tat sich auf, eine weiße Sonne und ein kleiner dunkler Strich am Horizont - ein Schiff.

Die Wassertröpfchen schrien sich aufgeregt zu "Hier bin ich! Hier! Siehst du das Schiff? Wo bis du?" "Hier", rief das andere, "ich sehe den blauen Himmel - oh, es geht alles so schnell..." und schon waren sie wieder untergetaucht und traten eine lange, lange Reise in die Tiefe des Meeres an.

Lange sprachen sie nicht miteinander, denn sie wollten sich nicht eingestehen, daß dieses kurze Intermezzo an der Oberfläche eigentlich eine große Enttäuschung gewesen war. Das war alles? Sagten sie sich, und eine tiefe Traurigkeit erfüllte sie. Wenn man aber lange schweigt, kann es vorkommen, daß man Dinge hört, die einem zuvor durch allzuviel Ablenkung entgangen sind, und so vernahmen die beiden Wassertröpfchen allmählich ein dunkles Tönen, bis sie erkannten, daß es die Stimme ihrer Mutter, des großen Meeres war.

"Ihr törichten kleinen Wassertröpfchen!" sagte das Meer, "Ihr seid doch ein Teil von mir! Und ich sehe allezeit die Sonne, den Himmel, die Schiffe, die auf mir schwimmen, und gleichzeitig sehe ich den Meeresgrund und alle Wunder in der Tiefe. Ich habe niemals Eile und nichts kann mir verloren gehen. Warum hört ihr nicht endlich auf, euch nur als Wassertröpfchen zu betrachten?"

Es dauerte eine Zeit, bis die Wassertröpfchen die Rede ihrer großen Mutter verstanden, und sie zögerten, ihrem Rat zu folgen, denn es ist nicht leicht, ein Jahrtausende altes Bewußtsein abzulegen. Aber das eine ging voran und das andere kam nach - mutig zerflossen sie in die große See.

Und nun erlebten sie eine Überraschung: wieder tat sich der blaue Himmel über ihnen auf, und sie hatten Zeit zu warten, bis die Sterne kamen.

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