von Edith Krispien

Die Heilung des Blinden

Der alte Benno freute sich. Er hatte in der Mülltonne neben der Schule ein frisches Käsebrötchen gefunden. Die Kinder warfen hier oft ihre Frühstücksbrote fort, weil die Mütter ihnen manchmal mehr mitgaben, als sie essen wollten.

Die gut verpackten Brote ließen sich leicht mit den Fingern ertasten, denn der alte Benno war blind. Nun machte er sich auf den Heimweg, wobei er mit seinem Blindenstock fröhlich auf das Pflaster klopfte. Seine Augenlider hatte er fest geschlossen. Er wohnte ganz in der Nähe im Keller eines alten Wohnhauses. Er mußte dort keine Miete zahlen. Die Hausbewohner duldeten ihn gern. Benno war freundlich und in der ganzen Straße gut bekannt. Manchmal gaben ihm die Kinder sogar ihr Frühstücksbrot direkt in die Hand.

Er kam zu seiner Kellertreppe, stieg die gewohnten 10 Stufen hinab und trat in seinen Wohnraum, den er stets übersichtlich aufgeräumt hatte. So konnte er sich leichter zurechtfinden, auch ohne Stock. Hier kannte er jeden Schritt auswendig.

Er stutze. Etwas war anders. Das Deckenlicht brannte hell, jedoch konnte er das nicht sehen. Aber da war noch etwas anderes. Ein Fremder war im Raum.

"Guten Tag, Benno", sagte eine freundliche Stimme.

"Wer bist du?"

"Ein Besucher. Du bist blind?"

"Ja. Eine Kriegsverletzung. Ich habe schon fast vergessen wie es war, alles zu sehen."

"Willst du geheilt werden?"

"Was für keine Frage! Natürlich würde ich gern wieder sehen. Aber man kann die Augen nicht mehr operieren."

"Ich spreche auch nicht von einer Operation, sondern von einer Heilung durch Gott. Jesus hat auch Blinde sehend gemacht, weißt du das nicht mehr?"

"Das war lange her", sagte Benno. "Heute ist eine andere Zeit."

"Da irrst du dich", sagte der Fremde. "Wenn du willst, wirst du geheilt werden."

Jetzt zögerte Benno. Bisher war die Unterhaltung ganz angenehm verlaufen, aber nun überkam ihn eine unbestimmte Furcht. "Ich weiß zwar nicht, wer du bist", sagte er leise, "aber selbstverständlich möchte ich gern sehen. und ich würde auch lieber durch Gott geheilt werden als auf einem Operationstisch, denn davor habe ich auch Angst. Aber wie willst du das anstellen? Und was muß ich dabei tun?"

"Du mußt nur glauben. Ich bete für dich, wenn du einverstanden bist."

"Natürlich bin ich einverstanden" sagte Benno jetzt etwas laut. "Warum bist du nicht schon früher zu mir gekommen?"

"Da  warst du vielleicht noch nicht bereit."

"Also ja! Und was muß ich tun? Kostet es was?"

"Geschenke kosten nie etwas. Nur einen Augenblick Geduld bitte, ich muß erst das Licht ausschalten!"

Benno war jetzt sehr irritiert. "Ich wußte gar nicht, daß Licht brennt. Aber wenn du es ausschaltest, ist es ja wieder dunkel, dann ist es für mich wie vorher und ich sehe überhaupt nichts!"

"Etwas wirst du sehen, du mußt es nur finden", sagte der Fremde.

Benno hörte ein leises klicken neben der Tür. Das muß wohl der Lichtschalter gewesen sein. Dann hörte er wieder die angenehme sanfte Stimme des  Besuchers:

"Öffne jetzt deine Augen, Benno. Du bist geheilt."

"Ob ich das überhaupt noch kann? Ich habe schon lange meine Augen nicht  mehr geöffnet."

"Ich weiß", sagte der Fremde. "Versuche es jetzt trotzdem."

Zitternd, voller Angst, öffnete Benno die Augen. Wie erwartet sah er nichts. Der Raum war dunkel. "Ich sehe nichts", sagte er mit leisem Vorwurf.

"Dreh dich langsam um. Etwas wirst du erkennen!"

Da war ein kleines Lichtpünktchen neben der Tür. Es leuchtete winzig und hellgrün. "Ja! Ich sehe etwas!" Benno war nun sehr aufgeregt. "Meinst du das Lichtpünktchen an der Tür?"

"Ganz genau! Du bist also sehend. Das Lichtpünktchen ist der Lichtschalter. Der ist wichtig für die Sehenden, sonst würden sie den Schalter nicht finden. Ich verlasse jetzt den Raum. Dann schaltest du das Licht ein. Vergiß nicht, Gott zu danken! Er hat dich geheilt. Es war mir eine große Freude, dir dienen zu dürfen. Du wirst nun sehen, solange du lebst!"

"Ich bin aber schon alt", wandte Benno schnell ein. "Aber natürlich bin ich dankbar! Danke, danke auch dir! Wie ist dein Name?"

Es kam  keine Antwort mehr. Die letzten Schritte zum Schalter mußte er nun allein tun. Benno empfand diesen Gang wie eine Art Glaubensprüfung. Wenn er den Schalter nun nicht anknipsen würde, dachte er flüchtig, dann wäre alles wie zuvor. Dunkel, dort wo er so lange zu hause war, wo er jeden Schritt auswendig zählen konnte. Der Schalter ist es! Sein Glaube wird der Schalter sein...

Dann ging er schnell und ohne weiteres Nachdenken zur Tür und drehte den Schalter herum, was er noch nie zuvor getan hatte. Ein blendendes Licht brannte auf und erfüllte den Raum, so daß er die Hand schützend vor die Augen halten mußte. Und dann zögernd, fast noch ungläubig, nahm er die Hand zurück und sah seinen Tisch, den Stuhl, das Bett, die Kommode, das große Regal an der Wand. Das Licht an der Decke kam von einer frei hängenden Glühbirne ohne Lampenschutz. "Ich werde einen Lampenschirm brauchen", sagte Benno laut vor sich hin. Dann fiel er auf die Knie und weinte. "Danke", stammelte er, "Lieber Gott, ich danke dir , danke! Danke". Und seine Augen flossen so reichlich über von Tränen, daß die Konturen wieder verschwammen.

Immer noch hielt Benno das erbeutete Käsebrötchen in der Hand, welches nun schon etwas zerdrückt war durch die Aufregung. Es war ein schönes Brötchen und er dankte nun auch hierfür. "Es ist zu schön", sagte er leise, "mein Gott, wie soll ich diese Freude nur aushalten? Ich muß es doch noch den andern Menschen erzählen, daß du mich geheilt hast. Sie müssen es alle hören, schenke mir noch eine Zeit lang Leben mit diesen neuen Augen, oh mein Gott! Nur noch eine kleine Zeit, ich danke dir, von nun an für jeden Tag!"

Er setzte sich an seinen Tisch, aß das Brötchen langsam auf und konnte sich kaum satt sehen an seinem Kellerraum. Als er endlich müde wurde, ging er zur Tür und schaltete das Licht aus. Die Schritte zu seinem Bett konnte er ja zählen wie immer. Aber morgen! Morgen würde er wieder sehen".

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